Lesezeit: 13 Minuten

Der folgende Artikel erschien in der „Brennpunkt“ Ausgabe der DIM im Januar 2015. Hier findet sich das Original. Autor ist Wolfgang Klöckner, Leiter der DIM.

Wir gehen davon aus, dass die Grundlage neutestamentlicher Gemeinde in drei zentralen Anweisungen von Jesus Christus zu sehen ist:
GOTT LIEBEN: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das größte und erste Gebot.“ (Mt 22,37-38)
ANDERE LIEBEN: „Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 22,39)
JÜNGER MACHEN: „Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles zu bewahren, was ich euch geboten habe!“ (MT 28,19-20)
So findet Gemeinde ihre grundsätzliche Ausrichtung und lebt in diesen drei Beziehungsfeldern: zu Gott, zu den Menschen bzw. den Gemeindegliedern untereinander und zu den Menschen, die es noch mit dem Evangelium zu erreichen gilt. Dies lässt sich gut in einem Dreieck darstellen mit Jesus Christus in der Mitte.
Das Wesen, die Essenz christlicher Gemeinde, besteht somit in Beziehungen. So selbstverständlich dies uns auch vorkommen mag, soweit hat sich das nominelle Christentum im Lauf der Zeit in den verschiedenen großen und kleineren Kirchen und Gemeinschaften davon entfernt.
Weltweit lässt sich in den letzten Jahrzehnten allerdings eine Rückkehr zu diesen einfachen Grundsätzen beobachten: Gemeindegründungs- bzw. Jüngerschaftsbewegungen in Indien, Hausgemeinden in China oder der islamischen Welt fordern uns im Westen stark heraus – zeigen sie doch, wie lebendige, missionarische Gemeindebewegungen gerade auch unter Druck und Verfolgung nicht nur überleben, sondern blühen und wachsen. Begriffe wie „Organische Gemeinde“, „Einfache Gemeinde“ oder „Simple Church“ tauchen auf und beschreiben Möglichkeiten, neue (eigentlich alte) Wege der Gemeinde (-gründung) zu gehen, abseits traditioneller Pfade, allein am NT ausgerichtet. Hier möchten wir als Mitarbeiter der DIM genau hinhören, zuschauen und lernen für unseren Auftrag in Deutschland und sind sehr dankbar für eine Vielzahl von fruchtbarer internationaler Beziehungen, die in den letzten Jahren gewachsen sind.
„Das Wesen, die Essenz christlicher Gemeinde, besteht in Beziehungen“.
Im folgenden möchte ich nun aufzeigen, dass die genannten drei Beziehungsfelder, in denen jede Gemeinde lebt, in den Briefen des NT weiter entfaltet und aufgefächert werden. Anders ausgedrückt: Was durch Jesus als dem eigentlichen Gemeindegründer angelegt und begonnen wurde, wird von seinen Aposteln bzw. in den Briefen weitergeführt – als Kontinuum, nicht im Kontrast.
„Gott lieben“
Das größte und erste Gebot sagt Jesus. Wie wird es im Blick auf die neutestamentliche Gemeinde weiter entfaltet?
DANK UND ANBETUNG: Gemeinsam Gott zu danken, ihn zu loben und anzubeten ist zweifellos ein wesentlicher Ausdruck der Liebe zu ihm. Die Apostelgeschichte berichtet davon und in den Briefen wird die Gemeinde dazu aufgefordert. An dieser Stelle ist auch das Abendmahl als „Gedächtnismahl“ zu nennen.
GEBET: Genauso verhält es sich mit dem gemeinschaftlichen Gebet, ohne das die Zusammenkunft einer Gemeinde kaum denkbar ist.
LEHRE UND VERKÜNDIGUNG: Die Beschäftigung mit der Bibel in unterschiedlichster Weise und die angemessene Antwort darauf (nämlich Gehorsam) sind ganz natürlicher Ausdruck der Liebe zu dem Gott, der uns seine Gnade schenkt. Weiterhin sind hier verschiedene neutestamentliche Bilder der Gemeinde zu nennen:
Der Tempel Gottes (1Kor 3,16-17): Hier ist Gott gegenwärtig und man kann ihm begegnen in Anbetung und durch Opfer. Priesterschaft (1Petr 2,5.9): Priester stehen zwischen Gott und den Menschen; sie bringen Opfer und Anbetung in geistlicher Art. Die Herde Gottes (1Petr 5): Jesus als Oberhirte, Älteste als untergeordnete Hirten. Die Braut (Eph 5,21-32): Betonung der Liebe zwischen dem Herrn und seiner Gemeinde.
„Andere lieben“
Hier geht es um die Beziehungen untereinander – innerhalb einer Gemeinde und darüber hinaus zu allen Menschen. Es ist wohl kaum übertrieben festzustellen, dass sämtliche Schriften des NT diesen Aspekt thematisieren: „Liebt einander so, wie ich euch geliebt habe!“ (Joh 13,34) ist Gottes Ideal für das Miteinander im Volk Gottes.
Einander zu lieben bedeutet, einander zu vergeben, zu ertragen, zu dienen, aufzuerbauen, zu trösten, zu ermutigen und vieles mehr. Paulus wird nicht müde, dies in allen seinen Briefen in die verschiedensten Richtungen zu entfalten. Im jeweils praxisorientierten zweiten Teil seiner Briefe liegt hier die Hauptbetonung.
„So ist Gemeinde Gottes Mittel, sich dieser Welt mitzuteilen: wie ein Schwarzes Brett oder eine Litfaßsäule.“
Weitere Bilder der Gemeinde, die das verdeutlichen:
  • DER LEIB CHRISTI (RÖM 12, 1KOR 12): Einheit unter Christus als Haupt mit den verschiedenen Gliedern. (Gaben und Dienste)
  • FAMILIE GOTTES (EPH 2,21-22): ER ist unser Vater, wir alle Schwestern und Brüder, deren Umgang miteinander sein Wesen widerspiegelt.
  • LEBENDIGE STEINE (1 PETR 2,5): Verschiedenste Menschen bilden miteinander eine neue Einheit, die sichtbar ist.
„Jünger machen“
Die Orientierung nach außen im Missionsauftrag bedeutet, anderen Menschen das Evangelium zu vermitteln und sie zu Jüngern Jesu zu machen. In besonderer Weise wird dieser Aspekt in der Apostelgeschichte hervorgehoben, vor allem im Wirken des Apostels Paulus. Dass Paulus jedoch immer in einem Team missionarisch unterwegs ist, weist darauf hin, dass hier die gesamte Gemeinde gefragt ist.
Außerdem finden wir Beispiele von Gemeinden vor Ort, die in ihrem Umfeld den Auftrag der Mission erfüllen (Jerusalem, Antiochia, Philippi, Ephesus). Als großes Bild zeigt sich Gemeinde im NT als eine Gemeinschaft, die als ganze und deren Glieder als einzelne mit einem Auftrag in diese Welt gesandt sind, um ihren Herrn und seine Botschaft zu repräsentieren und andere Menschen zu erreichen.
Auch diese Ausrichtung von Gemeinde wird durch neutestamentliche Bilder unterstrichen:
Gottes Ackerfeld (1Kor 3,6-9): Paulus vergleicht seinen Dienst mit dem Pflanzen, Gießen und dem Wachsen auf einem Feld – ein Prozess in verschiedenen Phasen. Gottes Bau (1Kor 3,9): Paulus als Bauarbeiter, der daran arbeitet, dass Menschen zu einer neuen Einheit zusammengefügt werden. Säule und Grundfeste der Wahrheit (1Tim 3,15): Hier ist wohl daran zu denken, dass Säulen (auch) als Anschlagtafel gebraucht wurden.
So ist Gemeinde Gottes Mittel, sich dieser Welt mitzuteilen: wie ein Schwarzes Brett oder eine Litfaßsäule.
Wenn nun diese drei Aspekte das Wesen und die grundsätzliche Ausrichtung der Gemeinde beschreiben, welchen Stellenwert haben dann Strukturen, die ja ganz offensichtlich auch notwendig sind. In unserem Gemeindeverständnis haben wir es so formuliert:
  • Gemeinde wird sichtbar und konkret, wo sie vor Ort als eine Gemeinschaft von Jüngern Jesu zusammen lebt und sich versammelt, um gemeinsam Gott anzubeten, aus Gottes Wort zu lernen, einander in verschiedener Hinsicht zu dienen und hinauszugehen, um das Evangelium in Wort und Tat weiter zu geben.
  • Gemeinde praktiziert Taufe und Abendmahl/Brotbrechen, so wie Jesus es angeordnet hat.
  • Gemeinde hat eine Leitung in Team-Strukturen (z.B. Leitungskreis / Älteste und Diakone)
  • In und mit der Gemeinde setzen sich die einzelnen Mitglieder entsprechend ihrer Gaben ein, was sich in einer Vielfalt von Diensten und Aufgaben ausdrückt.
  • Gemeinden entstehen dort, wo die Menschen leben. Dies können geografisch definierte Räume (Stadt, Region, Ortschaft) wie auch soziologisch definierte Gebiete (soziales Umfeld, Milieu, Nationalität) sein. Daraus resultiert unsere Überzeugung, dass eine große Vielfalt von Gemeindeformen und -prägungen nötig ist, um die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Vielfalt in Deutschland zu erreichen.
  • Gemeinde vor Ort ist grundsätzlich eigenständig, doch sie lebt in einem Netzwerk von Beziehungen und Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden in einer Stadt, Region und darüber hinaus.
Die genannten Punkte machen wie gesagt gewisse Strukturen nötig: Treffpunkte, Versammlungsräume, festgelegte Termine, eine klare Leitung und vieles mehr. Solche Punkte finden wir schon in der sogenannten Urgemeinde in Jerusalem und wenn sich beispielsweise eine Bibelentdeckergruppe hin zu einer Gemeinde entwickelt, muss darauf geachtet werden.
Wichtig ist in diesem Prozess, dass die jungen Gläubigen nicht einfach in vorgegebene Strukturen gepresst werden. Vielmehr sollten sie die Möglichkeit haben, aus dem Wort Gottes (ggf. unter Anleitung) selber zu entdecken, wie sie ihre Liebe zu Gott, dem Nächsten und die Erfüllung des Missionsauftrages in ihrem Umfeld und ihrer Kultur leben können. So können gemeindliche Formen und Wege für das Evangelium entstehen, die der jeweiligen Bevölkerungsgruppe, dem Milieu oder der Kultur entsprechen bzw. davon geprägt sind. Beispielhaft können hier einmal vier Bereiche von Strukturen genannt und mögliche Gefahren aufgezeigt werden:
Gemeinderäume oder Gemeindehäuser / Kirchengebäude Finanzen / Budget Gruppen / Programme / Veranstaltungen Pastor / Hauptamtlicher
Nichts davon ist an und für sich verkehrt, doch alle diese Aspekte einer Gemeinde (und noch einige mehr!) haben eigentlich nur einen dienenden Charakter — um nämlich die drei Beziehungsaspekte zu ermöglichen, zu fördern und wachsen zu lassen.
„Wir sagen: „Ich gehe zur Gemeinde“, meinen aber das Gemeindehaus.“
Und genau hier liegt das Problem: Diese Punkte können zwar einerseits allesamt fehlen und dennoch kann eine Gemeinde leben und wachsen (wie wir das beispielsweise in Hauskirchen in China sehen). Andererseits hat jeder dieser Punkte die Tendenz, eine Eigendynamik zu entwickeln. Unsere Sprache verrät uns an dieser Stelle: Wir sagen: „Ich gehe zur Gemeinde“, meinen aber das Gemeindehaus. Eine idea-Umfrage zum Thema Gemeindegründung in Deutschland (Januar 2015) zeigte unter dem Titel das Foto eines freikirchlichen Gemeindehauses. Gemeinde ohne eigene Räume bzw. ein Haus scheint offenbar für viele nicht denkbar. Ähnliches lässt sich sagen über Pastoren, hauptamtliche Prediger oder Seelsorger. Oder auch über Gemeindeprogramme (die nie genug Mitarbeiter zu haben scheinen).
Und wer kennt nicht die heiklen Diskussionen um das Gemeindebudget?
Das alles soll hier nicht verteufelt werden – es gibt schließlich auch genug positive Beispiele, wo die neutestamentlichen Prioritäten (noch) nicht durcheinandergeraten sind. Aber sie sind in unserem Land seltener geworden.
Wir sind der Überzeugung, dass wir in der Gemeindegründung hier einen Paradigmenwechsel brauchen. Neue Gemeinden braucht das Land – ohne Zweifel. Es fragt sich nur, was für welche.
Wir laden Sie ein: Beten und arbeiten Sie mit uns daran, dass es Gemeinden sind, in denen Menschen Gott über alles lieben, einander und die verlorene Welt mit Wort und Tat lieben und andere zu Jüngern Jesus machen!