In diesem Interview erzählt Shane Claiborne aus seinem heutigen Leben, was ihm Aktivismus bedeutet und was Gott über uns denkt. Shane ist im deutschsprachigen Raum durch sein Buch „Ich muss verrückt sein so zu leben: Kompromisslose Experimente in Sachen Nächstenliebe“ (2007, Brunnen) bekannt geworden.
Dieses Interview erschien ursprünglich im amerikanischen Radix Magazin Ausgabe. 43 Nr.1, Frühling 2022″
Radix: Wir freuen uns sehr, mit Dir sprechen zu können. Joy und ich, sowie die Radix-Leser schätzen die Kraft Deiner Worte, Vision und Arbeit sehr. Du zeigst damit das Herz des Vaters. Also Danke, dass Du da bist. Magst Du uns zu Beginn ein wenig von Dir erzählen?
Shane: Ja gerne. Ich bin im Osten von Tennessee aufgewachsen, und meine Vorfahren sind in den Bergen aufgewachsen, in aus denen auch Dolly Parton (eine bekannte Country-Sängerin) kommt. Mein Urgroßvater war ein berittener Postbote. Die Leute aus den Bergen – das sind meine Leute. Als ich in der Junior High School war, fing ich an Jesus nachzufolgen. Seitdem versuche ich herauszufinden, wie so ein Leben mit Jesus aussieht. Ich war auf der Eastern University, etwa eine halbe Stunde außerhalb von Philadelphia. Dort habe ich Soziologie und die Bibel studiert. Karl Barth sagte, dass wir die Bibel in der einen und die Zeitung in der anderen Hand halten müssen, damit unser Glaube nicht zu einer Eintrittskarte in den Himmel und zu einer Entschuldigung dafür wird, die Welt, in der wir leben, zu ignorieren. Das hat mir gefallen. Unser Glaube sollte uns anspornen, die Ungerechtigkeiten der Welt anzugehen und die Welt mehr in das zu verwandeln, wie Gott sie sich vorstellt. Das habe ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren versucht.
In Philly (Philadelphia), wo ich lebe, haben wir eine kleine Gemeinschaft namens „The Simple Way“. Dann gibt es da ein paar weitere Organisationen, die ich mit den Jahren mitgegründet habe, die sich beispielsweise für bezahlbare Wohnungen oder für die Verwandlung von Waffen in Gartengeräte einsetzen. Meine Frau Katie und ich leben in einem „Skoolie“, einem alten Schulbus, der in ein solarbetriebenes Tiny-Haus mit einer Komposttoilette umgewandelt wurde. Halleluja! Wir leben gerade unser bestes Leben!
Radix: Ich habe ein Interview gehört, wo Du gesagt hast, dass Deine Frau zu Dir meinte, Du solltest die Spinnen im Bus nicht töten, weil sie die Stinkwanzen loswerden.
Shane: Ich weiß nicht, ob das mit der Stinkwanzen-Theorie stimmt, aber ja so war das. Wir haben eine Haustierspinne namens Wanda, die oben einer Ecke wohnt. Katie hat sie so genannt. Aber solange Wanda auf Katies Seite bleibt, ist das o.k. für mich.
Radix: Das ist klasse.
Shane: Über die Jahre durfte ich viele Abenteuer erleben. Ich habe ein paar Bücher geschrieben. Zuerst „The Irresistible Revolution“ (zu Deutsch: „Ich muss verrückt sein so zu leben„), dann „Jesus for President“ und dann ein herrliches Projekt namens „Common Prayer“. Vor kurzem kamen „Executing Grace“, wo es um die Todesstrafe geht und „Beating Guns“ heraus. Im Moment schließe ich ein Buch ab, wo es um darum geht, wie eine bessere Lebensethik aussehen könnte und dass jeder nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist.
Es gab viele Menschen, die mich über die Jahre geprägt haben. Ich hatte die tolle Möglichkeit, eine Weile mit Mutter Teresa in Indien zu arbeiten. Das war sehr prägend für mich. Ich war auch in der Willow Creek Gemeinde außerhalb von Chicago aktiv – quasi eine evangelikale Megachurch. Das waren zwei sehr unterschiedliche Welten: Mutter Teresa und Willow Creek. Sie spiegeln ein breites Spektrum der Gemeinschaften und der Menschen wider, die geholfen haben, mich zu formen.
Als Nachfolger des Friedensfürsten, wie Jesus häufig genannt wird, wurde ich immer leidenschaftlicher dafür, ein Friedensstifter in der Welt zu werden. Das hat mich in den Irak, nach Afghanistan und in andere Konfliktzonen geführt, um dort zu versuchen, mich gegen Gewalt in all ihren hässlichen Erscheinungsformen einzusetzen. Ich habe eine Leidenschaft für das Leben, und setze mich dafür vielfältig ein, z.B. gegen die Todesstrafe, gegen Waffengewalt, gegen den Krieg und für den Schutz der Umwelt. Ich bin nicht nur gegen Abtreibung, sondern vielmehr für das ganze Leben.
Radix: Die Erfahrungen, die Du gemacht hast, und die Projekte, in die Du Dich mit Deinem Leben investierst, spiegeln eine Art wider, andere Menschen zu sehen, die davon beeinflusst ist, wie Deiner Meinung nach, Gott uns sieht. Kannst Du hierzu mehr erzählen?
Shane: Als Gott den ersten Menschen schuf und dem Dreck Leben einhauchte, war es wunderschön. An jedem Tag der Schöpfung gibt es diesen Refrain, wo Gott sagt: „Es ist gut.“ Aber als er den Menschen machte, sagte er sogar: „Es ist sehr gut.“ Aber es tut uns auch gut, uns gegenseitig zu helfen. Nachdem Gott den ersten Menschen geschaffen hat, sagte er, dass es nicht gut für uns ist, alleine zu sein. Wir sind als Gemeinschaft gemacht; wir sind nach dem Bilde Gottes geschaffen, und Gott ist Gemeinschaft. Es gibt den Vater, den Sohn und den Geist: und nach diesem Bild sind wir geschaffen. Deshalb sehnen wir uns danach, zu lieben und geliebt zu werden und dazuzugehören.
Deshalb fühle ich jedes Mal sehr leidenschaftlich mit, wenn ein Leben zerstört oder entweiht wird. Weil dieses Bild Gott sehr wichtig ist. Er nimmt es persönlich, wenn wir dieses Bild zerstören.
Das erste Mal, dass das Wort Sünde in der Bibel verwendet wird, ist nicht, als Adam und Eva die verbotene Frucht essen, sondern für die Sünde von Kain, der seinen Bruder tötete. Dieser Mord war auch der Eröffnungsakt des Leben außerhalb des Gartens Eden. Seitdem machen wir Menschen das. Das hat mich, wie ich über Sünde und die Heiligkeit des Lebens denke, geprägt.
In der Geschichte heißt es auch, dass das Blut aus dem Boden schrie. Das Blut schrie zu Gott. Es steht eigentlich im Präsens und im Plural. Es ist nicht ein Blut, sondern Blut in der Mehrzahl. Einige meiner Rabbi-Freunde, die die Bibel und Hebräisch gut kennen, haben mir mal gesagt, dass es wichtig ist, hier zu unterscheiden. Es ist nicht nur Abels Blut, das schreit, sondern jedes Blut, das im Laufe der Jahrhunderte vergossen wird, schreit zu Gott. Das Blut von Michael Brown in Ferguson; das Blut von Breonna Taylor; und das Blut von Ahmaud Arbery – all dieses Blut schreit auf. George Floyds und die amerikanischen Ureinwohner in den USA und Kanada und Menschen auf der ganzen Welt, die niedergeschlagen wurden: All dieses Blut schreit zu Gott.
Radix: Ich finde die Leidenschaft und die Liebe mit der Du sprichst, beeindruckend. Leute benutzen die Wörter Aktivist und Liebe nicht häufig in ein und demselben Satz. Was heißt es für Dich, ein Aktivist zu sein?
Shane: Manchmal sagen Leute, ich sei ein christlicher Aktivist, aber ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt Christen gibt, die nicht aktiv sind. Liebe ist ein Verb. Liebe und Gerechtigkeit erfordern mehr als nur Petitionen und christliche Dogmen. Sie erfordern aktive Handlungen in unserem Leben. Im Laufe der Geschichte des Christentums war das – das Leben der Christen – was die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen hat. Das findet sich auch überall in der Bibel. Das Neue Testament spricht von Glauben und Werken. Als Christen können wir nicht unaktiv sein. Liebe verlangt etwas von uns. Die Schrift sagt, dass niemand größere Liebe hat, als sein Leben für einen anderen Menschen hinzugeben. Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir unseren Körper und unser Leben der Ungerechtigkeit in den Weg stellen und uns für das Leben und die Würde aller einsetzen können.

Ich denke, wir verlieren viele junge Menschen in der Kirche, nicht weil wir das Evangelium zu schwer gemacht haben, sondern weil wir es zu einfach gemacht haben.

Es gibt eine großartige Stelle in 1. Johannes, wo er fragt: „Wie können wir sagen, dass wir Gott lieben, und dann direkt an unserem Nächsten, der in Not geraten ist vorbeigehen und kein Mitgefühl zeigen?“ Auch heißt es dort, dass niemand Gott je gesehen hat, aber wenn wir einander lieben, wird Gottes Liebe offenbart und manifestiert sich. Wir machen Gottes Liebe dadurch sichtbar, dass wir die Menschen um uns herum lieben. Jesus sagte, dass die Menschen uns an unserer Liebe als seine Nachfolger erkennen werden. Es bricht mir das Herz, dass wir das Christentum so oft auf eine theologische Lehre reduziert haben. Die Dinge, an die ich glaube und die ich für wahr halte, sind sehr wichtig, gleichzeitig hat Gott die Welt nicht dadurch geliebt, dass er einfach eine theologische Lehre gesandt hat.
Gott sagte: „Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns.“ Das ist Jesus. Ich denke, wir verlieren viele junge Menschen in der Kirche, nicht weil wir das Evangelium zu schwer gemacht haben, sondern weil wir es zu einfach gemacht und das Christentum auf einige Lehraussagen reduziert haben. Die Wahrheit ist, dass viele junge Leute eine Revolution wollen; sie wollen die Welt verändern. Und wenn ich auf Jesus schaue, sehe ich das auch in ihm.
Ein Aktivist ist nicht jemand, der nur reaktionär ist, protestiert oder Dinge beenden will. Mir gefällt, wie einer meiner Freunde es ausdrückt: „Wir protestieren nicht nur, wir ‚prophestieren‘.“
Radix: Das gefällt mir.
Shane: Wir sagen nicht nur, dass die Dinge falsch sind; wir verkünden, wie die Dinge richtig gemacht werden können. Gott stellt alle Dinge wieder her und erlöst sie. Für mich und die Leute mit denen ich daran arbeite, Waffen in Gartenwerkzeug umzuwandeln, ist das eine Proklamation: Alles kann neu sein. Metall, das zum Töten hergestellt wurde, kann verwandelt werden, in etwas, das Leben fördert. Manchmal halte ich eine Schaufel hoch, die ursprünglich ein Gewehr war, und sage zu den Leuten: „So kann eine Waffe aussehen, wenn sie wiedergeboren ist.“
Radix: Ich habe letztes mit ein paar Freunden über deine Arbeit geredet – Waffen in Gartenwerkzeug zu verwandeln – und sie fragten: „Können Waffen gute Werkzeuge sein?“ Ich meinte, ich bin mir ziemlich sicher, dass Waffen aus gutem Stahl hergestellt und superhart sind.
Shane: Total! So eine Schaufel hast Du noch nie gesehen. Nur so am Rande, das zeigt auch, wie billig einige unserer herkömmlichen Gartenwerkzeuge hergestellt werden, was für unsere Wegwerfgesellschaft spricht. Wir sind gut darin, Dinge zu benutzen und sie wieder wegzuschmeißen. Wir aber stellen Gartengeräte her, die man für den Rest des Lebens nutzen kann.
Radix: Du hast mehrfach gesagt, dass sich das Evangelium schneller durch Faszination verbreitet. Was Du tust, ist faszinierend und spannend. Etwas was wir Christen sein sollten.b
Shane: Ich bin davon überzeugt, dass sich das Evangelium am besten nicht durch Gewalt, sondern durch Faszination verbreitet. Es scheint, dass Jesus es auch so getan hat. Es gibt diese schöne Stelle im Lukasevangelium, wo Johannes der Täufer seine Jünger schickte, um Jesus zu fragen: „Bist du derjenige, auf den wir gewartet haben?“ Da Johannes sich auf die Hinrichtung vorbereitete, war er wahrscheinlich etwas ungeduldig. Die Antwort von Jesus war genial: Er forderte sie auf, Johannes zu erzählen, was sie bei ihm gesehen und gehört haben. Es ist eine Einladung. Er sagt, mein Leben spricht für sich.
Wenn Leute mich fragen, ob ich Christ bin, bin ich dann glaubwürdig? Kann ich sagen: „Sag mir, was du siehst und was du hörst“? Ich kann ein Jesus-T-Shirt tragen oder einen Jesus-Autoaufkleber haben, aber riecht mein Leben nach Jesus? Zeigt es in jedem Bereich auf Jesus? Denn darauf kommt es am Ende an.
Als Christen sind wir eher dafür bekannt, wen wir ausgeschlossen haben, als wen wir angenommen haben. Wir sind für genau die Selbstgerechtigkeit bekannt geworden, die Jesus den religiösen Leuten vorwarf – eine Schlangenbrut zu sein. Ich kann das nicht sagen, aber Jesus tat es. Mein Punkt ist, dass wir häufig nicht unserer Berufung als Jünger der Liebe gerecht wurden.
Die Barna-Group führte eine Studie durch, in der junge Menschen gefragt wurden, woran sie denken, wenn sie das Wort „Christ“ hören. Die Antwort Nummer 1 war „gegen-homosexualität“, Nummer 2 war „verurteilend“ und Nummer drei war „Heuchler“. Das bricht mein Herz. Was diese jungen Leuten nicht nannten, war das Wort Liebe, aber das ist die eine Eigenschaft, von der Jesus sagte, dass wir dafür bekannt sein sollten. Wir haben also Arbeit zu tun. Gandhi sagte: „Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest.“ Ich versuche die Veränderung zu sein, die wir in der Gemeinde sehen wollen.
Radix: Was denkst Du, denkt Gott über Menschen?
Shane: Ich denke da an die Stelle in Genesis, wo Gott, nachdem er uns Menschen erschuf, sagte, dass es nicht nur gut, sondern dass es sehr gut war. Gott war total begeistert von den Menschen. Das ist wohl einer der Gründe, warum Gott keine anderen Götzen oder Bildnisse erlaubte – weil er wollte, dass wir Seine Ebenbilder in der Welt sind.
Dorothy Day sagte, der einzig wahre Atheist sei derjenige, der das Ebenbild Gottes in einer anderen Person nicht sehen kann. Egal ob wir ein Kind oder einen Bettler auf der Straße anschauen, wir können in ihren Augen Gott sehen. Deshalb wohnt Gott nicht in von Händen gebauten Tempeln. Wir sind buchstäblich ein Tempel, ein Heiligtum, in dem das Allerheiligste wohnt. Gott wohnt in uns.
Es ist auch der Ort, zu dem wir eingeladen sind, um Gott zu sehen. Mutter Teresa sagte, wenn wir in die Augen der Armen schauen, können wir Jesus in seinen vielen Verkleidungen sehen. Das kann ich bestätigen. Und egal wie sehr uns diese Welt zermürbt, wir können stets in den Spiegel schauen und sagen: „Ich bin nach dem Bilde Gottes geschaffen, und egal, wer versucht, mich vom Gegenteil zu überzeugen, der Schöpfer sagt etwas anderes.“
Die Bibel spricht auch davon, dass die Mächtigen von ihren Thronen geworfen und die Niedrigen erhöht werden. Deshalb denke ich, dass es so wichtig ist, die Würde von Menschen zu betonen, die historisch entehrt und ihrer Würde beraubt wurden – z.B. Afroamerikaner, indigene Völker und so ziemlich alle, die nicht weiß sind. Wir alle sind Teile des Körpers. Jetzt sehen wir, wie die Mitglieder, die entehrt waren, geehrt werden.
Radix: Mit gefällt, was Du gesagt hast, dass Gott begeistert von uns Menschen ist und wie wichtig es ist Gottes Ebenbild in jedem Menschen, auch in uns selber, zu sehen. Ich arbeite in der Seelsorge, und ich sehe eine Tendenz, dass wir zwischen dem Hilfegebendem und dem Empfänger unterscheiden. Wir stellen den Menschen Ressourcen und Hilfen zur Verfügung, aber es entsteht dabei auch eine gegenseitige Bereicherung. Auch wir Helfer werden gesegnet. Kannst du dazu etwas sagen?
Shane: Ich mag das alte Zitat: „Wenn du hierher gekommen bist, um mir zu helfen, verschwendest du deine Zeit. Aber wenn du gekommen sind, weil deine Befreiung mit meiner verbunden ist, dann lass uns zusammenarbeiten.“ Das sehe ich bei Jesus. Er kam nicht nur, um den Armen zu helfen. Er wurde selber jemand, der in unserer Welt an den Rand gedrängt worden war. Er hätte als alles kommen können, was ihm gefiel, aber er kam als braunhäutiger palästinensischer jüdischer Flüchtling in ein besetztes Land. Er wurde in einer Krippe geboren, weil in der Herberge kein Platz war. Er kam aus Nazareth, wo gesagt wurde, dass daher nichts Gutes kommen könne. Das ist göttliche Solidarität: die Bequemlichkeiten des Himmels verlassen, um sich der Quälerei hier auf Erden anzuschließen; nicht nur kommen, um den Armen zu helfen, sondern in ihre Mitte geboren zu werden und dann zwischen zwei Verbrechern zu sterben.
Jesus nannte seinen Jüngern auch nicht mehr Diener, sondern Freunde. Freundschaft ist etwas Schönes. Die Professionalisierung unserer Sozialarbeitsmodelle, in der sich Sozialarbeiter z.B. gegen Haftung schützen müssen, macht es sehr schwierig Freundschaften aufzubauen. Ich will Sozialarbeiter nicht runter machen. Ich war ja selber einer und bin es in vielerlei Hinsicht immer noch. Aber wir sind schnell dazu geneigt, Menschen lediglich als Kunden und Verbraucher zu sehen – aber nicht als Freunde.
Mutter Teresa hat Professionalisierungsansätzes immer wieder entgegengehalten. Ihre Herangehensweise war nicht immer die effizienteste; sie hatte nicht die allerneuste Technologie. Es gibt da natürlich berechtigte Kritik, aber das Motto von Mutter Teresa war, dass wir nicht berufen sind zu großen Dingen, sondern dazu kleine Dinge mit großer Liebe zu tun. Ich habe gelernt, dass jemand viele Menschen ernähren kann, doch den Punkt mit der Liebe verpasst. Du kannst jemand ein Haus bauen, das aber kein warmes Zuhause ist, weil die Person darin einsam ist. Du kannst eine super Gesundheitsversorgung haben, aber immer noch niemanden, der deine Hand hält, wenn du stirbst. So wichtig unsere Sozialsysteme auch sind, Freundschaft, Gemeinschaft und Liebe sind das, wonach wir uns alle wirklich sehnen.
In Aktivistenkreisen gibt es eine Tendenz, Menschen eine Stimme geben zu wollen. Die Bibel bestätigt das auch. Ich denke aber oft, dass wir versuchen Menschen eine Stimme zu geben, unsere Stimme, anstatt sie selber zu Wort kommen zu lassen. Die Leute haben eine Stimme – das Problem ist nur, dass zu wenige zuhören. Anstatt nach dem Mikrofon zu greifen, sollten wir das Mikrofon weiterreichen. Anstatt vor Menschen zu stehen, sollten wir neben oder hinter ihnen stehen. Wir sollten ihre Stimmen verstärken, anstatt zu versuchen, ihre Stimmen zu sein.
Radix: Wie könnte das in unseren Nachbarschaften aussehen? Dein Argument, hinter Menschen zu stehen, ist stark. Kannst du das erweitern?
Shane: Viele von uns haben weniger ein Mitgefühlsproblem als vielmehr ein Näheproblem – ein Beziehungsproblem. Es ist nicht so, dass wir uns nicht um die Armen oder die verurteilten Strafgefangenen sorgen – wir kennen sie nur einfach nicht. Mutter Teresa sagte, es kann schick sein, über arme Menschen zu sprechen, aber nicht schick, mit ihnen zu sprechen. Wir sind gut darin, über Menschen zu sprechen und uns für Menschen einzusetzen. Worin wir nicht so gut sind, ist es, unsere eigenen Nachbarn mit Migrationshintergrund zu kennen. Es ist wichtig, dass wir uns in diese Räume begeben. Es passiert so schnell, dass wir nur mit Menschen zusammen sind, die uns ähnlich sind, politisch und kulturell. Dr. Martin Luther King beklagte sich darüber, dass 11 Uhr an einem Sonntagmorgen, die Zeit ist, wo die Menschen am meisten getrennt voneinander sind. Wenn wir Christen in unseren Gottesdiensten zusammenkommen, spiegeln wir oft eher die Muster der Rassentrennung, als die Vielfalt wider.
Wir müssen raus. Das ist Jesu Auftrag. Er rief keine Gefängnisinsassen, Kranken oder Hungrigen dazu auf, in die Gemeindegebäude zu kommen. Nein, wir sollen rausgehen. Leider sind wir zu gut darin geworden, aus den Gebieten wegzuziehen, in die Jesus gezogen war.
Radix: Hast Du Ratschläge, wie wir bessere Nachbarn sein können?
Shane: Eine der wichtigsten Lektionen, die ich in Kalkutta gelernt habe, ist, dass man nicht dorthin gehen muss, um ein Kalkutta zu finden. Wie Mutter Teresa sagte, Kalkutta ist überall, wenn wir nur Augen zum Sehen haben. Also sollten wir beten, dass Gott uns Augen gibt, um die Einsamen & Ausgestoßenen zu sehen. Es ist auch einfacher, jemanden auf der anderen Seite der Welt zu lieben als auf der anderen Seite der Stadt. Die Schwerkraft des Evangeliums sollte uns eher zum Leiden hinziehen als davon weg. Das Evangelium ist wirklich anders als unsere Kultur. Wir neigen dazu, uns von Menschen zu entfernen, die nicht wie wir aussehen oder so denken wie wir. Das Evangelium ist anders: Wir sollen zum Schmerz der Welt hingezogen werden.
Es gibt viele Möglichkeiten, dorthin zu gelangen. Frederic Buechner hat einen tollen Satz, den ich umschreiben werde: Wir müssen unsere tiefsten Leidenschaften nehmen und sie mit dem tiefsten Schmerz der Welt verbinden. Und wenn unsere Leidenschaften auf den Schmerz der Welt treffen, dann finden wir unsere Berufung.
Wir alle sind mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Gaben und Talenten ausgestattet; Der nächste Schritt besteht darin, diese Dinge in Einklang mit Gottes Königreich zu bringen – welches an erster Stelle kommt. Dann dienen wir einem höheren Zweck und daraus entstehen wunderschöne Sachen.
Ich habe Roboter-Ingenieure getroffen, die Roboter entwickeln, die Landminen entschärfen können. Als ich sie fragte, was sie auf diese Idee gekommen sind, sagten sie, sie hätten davon gehört, wie Kinder für einen Hungerlohn, gezwungen wurden, aktive Landminen zu entschärfen. Ihre Reaktion darauf war, Roboter dafür zu entwickeln, damit die Kinder stattdessen auf den Feldern spielen konnten.
Ich kenne auch Leute, die an sauberer Wassertechnologie arbeiten. Ein Klempner, den ich kenne, sagte mir, er sei im Ruhestand und wolle Klempner für die Nachbarschaft werden, also erstellten wir eine Liste mit allen Leuten, die einen Klempner brauchten; In manchen Fällen benutzten Leute Eimer, weil ihre Toiletten nicht funktionierten. Also hier ist dieser Typ ein missionarischer Klempner.

Wichtig ist nicht, was du machst, wenn du erwachsen bist, sondern wer du sein wirst.

Es ist erstaunlich, was wir tun können, wenn wir unsere Gaben einsetzen. Ich sage zu jungen Leuten: Wichtig ist nicht, was du machst, wenn du erwachsen bist, sondern wer du sein wirst. Die Dinge, die wir tun, können Veränderungen bewirken, aber was zählt, ist, wer wir werden. Was für ein Anwalt oder Arzt wollen wir werden? Wir alle haben die Wahl, unsere Gaben zu nutzen und mit Gottes Plänen zur Befreiung der Gefangenen und Erlösung der Welt in Einklang zu bringen.
Radix: Kann man das was Du sagst, auch anderswo machen? Und was sind Deine Gedanken über Hoffnung?
Shane: Jemand hat mal Mutter Teresa gefragt, wie sie fünfhunderttausend Menschen von der Straße geholt hat. Sie sagte, ich habe mit einem angefangen, und von da an ging es weiter. Jesus gebrauchte das Bild vom Senfkorn und der Hefe – beides sehr winzige Dinge – die doch einen großen Unterschied machen. Dorothy Day von der Katholischen Arbeiterbewegung sagte, unsere Aufgabe sei es nicht, größer und größer, sondern kleiner und kleiner zu werden. Und ist das nicht genau das, was Gott in Jesus gemacht hat? Er zog sich Haut an und zog in die Nachbarschaft.
Wir müssen nur da raus. Zu oft denken und analysieren wir zu viel. Dr. King sprach von Paralyse durch Analyse. Was mir Feuer in die Venen schoß, war zu sehen, wie viele Kinder in Nord-Philadelphia getötet wurden. Deshalb schmieden wir aus Waffen Pflügen. Ich denke auch an zu Unrecht Verurteilte Strafgefangene, wie meinen Freund Derek, der fast zwanzig Jahre im Todestrakt verbrachte und sechs Hinrichtungstermine verkraften musste, teilweise wegen seiner Hautfarbe, bevor er für völlig unschuldig erklärt wurde.
Eines der besten Dinge, die wir tun können, ist Geschichten zu erzählen und sie immer weiterzuerzählen. Wir müssen den Stimmen der Ausgegrenzten Raum geben. Dafür gibt es keine Abkürzung.
Ich denke an die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Man könnte meinen, die ersten beiden Passanten, die religiösen Menschen, wären sicher stehen geblieben. Dr. King schlug vor, dass die ersten beiden Passanten vielleicht Angst hatten. Sie waren zu besorgt darüber, was ihnen passieren könnte und deshalb gingen sie weiter. Aber dann blieb der Samariter stehen. Er machte sich keine Sorgen darüber, was mit ihm passieren könnte; er machte sich mehr Sorgen darüber, was mit dem Kerl im Straßengraben passieren würde. Samariter wurden extrem geächtet. Doch Jesus stellt diesen Samariter als Helden hin, nicht weil er einen Doktortitel hatte, sondern weil er Mitgefühl gezeigt hat. Das lässt hoffen. Trotz der Tatsache, dass die Leute, die etwas hätten tun sollen, es nicht getan haben, hat es jemand anderes getan.
Gott kann jeden gebrauchen. Gott sprach zu Bileam durch seinen Esel! Und seitdem spricht Gott durch Esel. Wenn Gott sich entscheidet, durch uns zu sprechen, sollten wir nicht allzu hoch von uns selbst denken. Wir sollten auf nichts anderes vertrauen als auf den Geist Gottes.
Es gibt ein altes Lied: „Mein Glaube gründet sich auf nichts Geringeres als auf Jesu Blut und Gerechtigkeit.“ Ich liebe das und denke, es ist eine große Versuchung, auf politische Parteien, Kandidaten oder sogar auf unsere eigene Stärke zu vertrauen. Wir glauben, dass diese Dinge die Welt verändern können. Wir müssen aber unser Vertrauen auf Gott setzen. Und die Ironie ist, dass Gott sich entschieden hat, die Welt nicht ohne uns zu verändern. Wir sind eingeladen, Teil der Veränderung zu sein, aber Gott ist nicht durch uns eingeschränkt, so sehr er uns auch gebrauchen möchte.
Radix: Wenn Du mit allen Pastoren gleichzeitig reden könnten, was würdest Du ihnen sagen?
Shane: Ich würde ihnen sagen, dass wir eine Jüngerschaftskrise in der Gemeinde haben. Wir sind nicht gut darin, Jünger zu machen und wir müssen daran erinnert werden, dass wir durch unsere Liebe erkannt werden sollen. Vieles stammt daher, dass wir unseren Glauben auf einige Glaubenssätze reduziert haben. Es heißt, dass wir, selbst wenn wir mit unserem Glauben Berge versetzen können und aber keine Liebe haben, leer sind. Wir können alles Wissen, Prophezeiungen und Wunder vollbringen, aber wenn wir keine Liebe haben, sind wir immer noch leer. Anscheinend können wir sehr viele Dinge ohne Liebe tun!
Es ist nicht unser Auftrag, Gläubige zu machen; Unser Auftrag ist es, Jünger zu machen. Im Jüngsten Gericht wird es kein Quiz geben zu den wichtigsten christlichen Lehrmeinungen. Obwohl ich denke, dass viele Pastoren und Theologen so etwas super fänden. Stattdessen wird Jesus da sein, der uns fragt, ob wir ihn im Gefängnis besucht haben; ob wir ihn willkommen geheißen haben, als er ein Fremder, ein Einwanderer oder ein Flüchtling war; ob wir ihm zu Essen gaben, als er hungrig war; ob wir ihn medizinisch versorgt haben, als er krank und in Not war. Es ist mir wichtig klarzustellen, dass ich nicht glaube, dass unsere Taten unsere Erlösung verdienen können, aber ich glaube, dass unsere Taten unsere Erlösung demonstrieren. Und am Ende des Tages, wenn unser Glaube keine gute Nachricht für die Armen ist, wenn er nicht wirklich konkrete Taten des Mitgefühls, der Liebe und der Gerechtigkeit hervorbringt, dann ist es ein leerer Glaube. Und wenn wir es ernst meinen, es sind nicht nur die Armen, die wegen dieser verkommenen Welt zu leiden haben. Es sind auch die Reichen, die unter ihr leiden. Gott ist gekommen, um uns das Leben in Fülle zu geben, und viele von uns haben sich mit etwas weit geringerem zufrieden gegeben.
Radix: Vielen Dank für all das und für die Begeisterung und Freude mit der Du erzählst.
Shane: Ich liebe das alte Lied: „This joy that I have, the world didn’t give it to me.“ Ja, die Welt hat sie nicht gegeben, und die Welt kann sie nicht nehmen. Freude ist eine Frucht des Geistes. Und sie ist sehr gefährdet. In vielen Kreisen, wo wir uns mit sozialer Gerechtigkeit und ernsten Themen befassen, ist es leicht, unsere Freude zu verlieren – das gilt für Liberale oder Konservative. Deshalb ist so wichtig, dass wir die Freude am Leben behalten. Emma Goldman sagte: „Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution.“ Amen!

Dein Take-Away

Nimm Dir gerne zum Schluss 1 Minute, um kurz Jesus zu fragen:
• Was möchtest du mir durch das Gelesene sagen?
• Was soll ich dementsprechend tun?
• Mit wem kann ich diese Gedanken teilen, bzw. davon weitergeben?
Bild: Screenshot von Youtube-Video.